"Der Sattel
hat mehr gelitten als ich"
Wolfgang
Kamerichs hat mit dem Fahrrad auf der Strecke von Wiesbaden
nach Athen viel erlebt
Wolfgang Kamerichs auf dem Weg
nach Athen.
RMB/Windolf
Vom
15.11.2004
Von Kurier-Mitarbeiterin
Angelika Eder
Mit dem Fahrrad von Wiesbaden nach Athen: Diese olympische
Leistung auf 3 500 Kilometern vollbrachte der 34-jährige
Wolfgang Kamerichs zwischen 9. Juli und 21. August. Über die
nötige Disziplin und Ausdauer für täglich rund fünf Stunden
Radeln verfügte er als Marathonläufer, an alles andere hatte
der Mathematiker, obwohl Produktentwickler bei einer
Lebensversicherung, eigenen Worten zufolge "naiverweise nur
wenig Gedanken" verschwendet.
Wie optimistisch er gestartet war, zeigt allein seine
"Mini-Radapotheke" mit Aspirin, einem Mittel gegen Durchfall,
Sonnencreme und Nivea. Mehr brauchte er tatsächlich nicht, wie
der 1,97-Meter-Mann mit breitem Grinsen bekräftigte, denn:
"Der Sattel hat mehr gelitten als ich!" Auch erwies sich das
Cross-Rad als äußerst zuverlässig, was Kamerichs angesichts
seines blauäugigen Starts im Nachhinein besonders freut.
"Technik ist nicht mein Ding!"
Also den Schlauchwechsel beherrsche er ja noch oder das
Reparieren der Bremsen, aber wenn etwas an der Schaltung
gewesen wäre . . . War aber nicht und der reiselustige
Junggeselle hatte auf der ganzen Strecke über München,
Innsbruck, Cortina d`Ampezzo und Sarajevo nach Montenegro nur
einen einzigen Platten, dafür umso mehr erfreuliche
Begegnungen. Beispielsweise sprach ihn vor Innsbruck spöttisch
ein junger Mann auf seine am Fahrrad befestigte Olympische
Fahne an: "Suchste den Weg nach Athen?" Über dessen
Verblüffung auf das Ja hin amüsiert sich der Marathonradler
noch heute.
In der österreichischen Stadt wurde Kamerichs nach
Bekanntwerden seiner Pläne sogar an der Schanze fotografiert,
ohne wie alle anderen den teuren Eintritt ins Stadion bezahlen
zu müssen. Übernachtet hat er auf Campingplätzen und für
angemessene Ernährung meist nach dem Prinzip "vom Laden in den
Mund" gesorgt. An manchen Tagen musste er bis zu sieben Liter
trinken, wobei er wegen des Zuckerbedarfs oft stark gesüßte
Getränke bevorzugte.
In Split wurde das Fahrrad zwischendurch mal mit einem
Flugzeug vertauscht, weil der 60. Geburtstag des Vaters
anstand. Die besorgten Eltern hatten Informationen über die
einzelnen Länder eingeholt, und so war Albanien der einzige
Staat, den der Radler auf seiner noch verbleibenden Strecke
nach Athen mied. In diesem Entschluss bestärkte ihn auch das
E-Mail eines Bekannten, er solle sich aufgrund der politischen
Wirren und der Banden, die im Norden ihr Unwesen trieben,
"dann doch lieber selbst eine Kugel durch den Kopf schießen."
Von Brindisi über Igoumenitsa schließlich in Athen
gelandet, gönnte er sich an drei Tagen neun Veranstaltungen
der Olympischen Spiele, darunter das Kugelstoßen an antiker
Stätte, Fechten, Fünfkampf, Leichtathletik und Marathon.
Dieses einmalige Erlebnis, über das er übrigens Familie und
Freunde von unterwegs auf einer eigenen Homepage auf dem
Laufenden hielt, würde er jederzeit wiederholen. Es sei alles
so gut gelaufen, dass er sogar noch kurz vor dem Ziel zwei ihm
entgegenkommende Radler um ihre bevorstehende große Tour
beneidet habe.
Die geplante Woche Erholung am Strand ließ er sich
letztlich nicht entgegen, bevor er ins Büro zurückkehrte, wo
ihn erstmals nach einem Urlaub alle persönlich mit Handschlag
begrüßt hätten. Was er bei nächsten Mal anders machen würde?
Zu dieser Frage, die er sich auch schon gestellt habe, sei ihm
nur ein einziger Fehlgriff eingefallen: "Dann würde ich einen
besseren Dosenöffner mitnehmen!"